Wenn man in deutschsprachigen Ländern über Naturheilkunde spricht, denkt man häufig an Christian Wilhelm Hufeland (1762-1836). Hufeland war Leibarzt der königlichen Familie, Staatsrat und Professor der Universität Berlin. Sein Enchiridion medicum, oder Anleitung zur medizinischen Praxis war Hufelands letztes Werk, er starb im selben Jahr. Die erste Auflage erschien im Mai 1836, und im August wurde bereits die zweite Auflage herausgegeben…
Samuel S. Kottek in [Naturheilkunde und Judentum]
Das erste Kapitel, „Natur und Kunst; Physiatrik“, beginnt mit dem Titel „Naturheilung“ (Seiten 1-5). Als Motto wählte Hufeland:
Natura sanat, Medicus curat Morbos.
Diesen Aphorismus kann man schon im Regimen sanitatis von Salerno finden. Meistens findet man folgendes: Medicus curat, Natura sanat Morbus. Es ist bemerkenswert, dass Hufeland im Gegensatz dazu die Natur an den Anfang stellt:
„Die Natur heilt, der Arzt behandelt die Krankheit.“ Hufeland schreibt weiter: „Alle Krankheitsheilungen werden durch die Natur bewirkt; die Kunst ist nur ihr Gehülfe, und heilt nur durch sie“ (S. 1). Unter ,Physiatrik‘ – so Hufeland – versteht man gewöhnlich die Naturheilung. Er verstehe darunter die darauf gegründete Heilkunst (S. 5). Von Hippokrates an bliebe diese Ansicht „durch alle Wechsel der Schulsysteme hindurch […] das Ideal der wahren Iatriker“.
Es gibt aber zwei Irrwege, vor denen der Arzt sich hüten müsse. „Der erste ist […] die negative Behandlung, d. h., alles der Natur (zu) überlassen. […] Der zweite ist das zu viel thun“, zum Beispiel „übermäßige Blutausleerungen, die dem Organismus mehr Schaden bringt als die Krankheit selbst“ (S. 7).
Ich werde nun Hufeland verlassen, um mich Maimonides zuzuwenden, aber möchte noch bemerken, dass eine hebräische Übersetzung des Enchiridion, aus der russischen Auflage übersetzt, 1869 in Jitomir gedruckt wurde.
Nach Brauchte gehören zur Naturheilkunde „die Sonne, das Licht, die Luft, die Bewegung, die Ruhe, die Nahrung, das Wasser, die Kälte, die Erde, die Atmung, die Gedanken, die Gefühle und die Willensvorgange.“
Ist die Natur wirklich als idealer Arzt zu betrachten, oder mehr als vorbildlicher Hygieniker? Maimonides wird uns wohl helfen, eine Antwort zu geben.
Maimonides über die Natur als Heilkünstler
Ungefähr 700 Jahre vor der Publikation des Enchiridion wurde Moses Maimonides in Cordoba geboren (1138). Die Familie musste, als Moses noch ein Kind war, die Stadt verlassen, weilte eine Zeitlang in Fez, Marokko, und erreichte endlich Ägypten.
Erst dann, als er ungefähr 30 Jahre alt war, wendete sich Maimonides der medizinischen Praxis zu. Damals war er schon als Autorität des jüdischen Gesetzes weit bekannt. Wir wissen leider nichts, weder über sein Curriculum vitae noch wo er Medizin studiert hat. Man kann aber doch feststellen, dass er in Fez mit arabischen Ärzten in Kontakt war.
Wir werden uns als erstes seinem Regimen Sanitatis (Heb. Hanhagath haBriuth) zuwenden. Dieses Werk wurde für den Sultan Al-Afdal, Saladins Sohn und Nachfolger, geschrieben. Das Buch wurde bald ins Hebräische übersetzt, und schon 1477 in lateinischer Sprache gedruckt. Der zweite Teil des Werkes erklärt, was man machen soll, wenn kein Arzt, oder kein voll ausgebildeter Arzt, zur Verfügung steht.
Wir lesen:
„Da möchte ich sagen, dass Galen uns schon erklärt hat, dass die Griechen in alten Zeiten, wenn die Krankheit ihnen unklar war, gar keine Arzneimittel gaben, und dass sie den Kranken der Natur überließen, weil sie die Krankheiten zu heilen weiss.“
Auch Hippokrates hat in vielen seiner Werke die Natur geschätzt, weil sie klug und geschickt sei. Sie würde alles zweckmäßig ausführen, und man brauche nichts anderes, um die Genesung zu erreichen. Der Arzt aber solle nur dazu beitragen, die Natur zu unterstützen und auf ihrem Wege vorgehen.
Gleich danach zitiert Maimonides aus Rhasis: Es gebe eigentlich nur drei Möglichkeiten: „entweder ist die Krankheit stärker als der Kranke, dann wird kein Arzt helfen können“; oder „die Kraft des Kranken [ist] stärker als die der Krankheit, da wird die Natur allein erfolgreich sein. Nur wenn beide Kräfte gleich sind, kann, oder soll der Arzt – aber nur ein voll ausgebildeter Arzt – helfen, indem er die Kräfte des Kranken und der Natur, verstärkt.“
Desweiteren gibt uns Maimonides nähere Angaben:
„Es ist also klar geworden, dass es nötig sei, dass der Kranke bei der Natur verbleiben soll, wenn sich kein voll ausgebildeter Arzt meldet. Der Sinn des ‚bei der Natur verbleiben‘ ist, dass man kein Arzneimittel nehmen soll, das nicht von einem gesunden Menschen genommen werden kann.“
„Der Kranke soll die Nahrung nicht vernachlässigen und trinken, wenn er Durst hat, essen, wenn er Hunger hat, und dies zur Zeit, wo er gewöhnt ist, eine Mahlzeit zu verzehren. Er soll aber nur die leichteste Speise zwischen den üblichen Mahlzeiten zu sich nehmen.“
Maimonides rät von starken Mitteln ab (zum Beispiel reichlicher Aderlass), die mehr Schaden als Hilfe bringen, wenn sie nicht auf Anordnung eines perfekten und erfahrenen Arztes verordnet worden sind.
Wir werden nun vorübergehend den Regimen Sanitatis verlassen, um uns dem Buch über Asthma zuzuwenden. Hier benutzen wir die neue englische Übersetzung von Gerrit Bos. Dieses Traktat wurde für eine vornehme Persönlichkeit geschrieben und ist eigentlich nichts anderes als ein wiederholtes Regimen Sanitatis‘, mit einigen speziellen Anweisungen für Leute, die an Lungenbeschwerden leiden.
So lesen wir:
„Man solle erstens auf die Besserung der Luftqualität achten, dann auf die Qualitätsbesserung des Wassers, und dann auf die der Nahrung“. Maimonides zitiert hier Galen – nicht Hippokrates. Weiter bemerkt Maimonides, dass man sich für leichte Beschwerden nicht beeilen soll, Arzneimittel einzunehmen: „Die Natur wird wohl heilen.“ Ein angemessenes Regime soll genügen.
Hier fügt er hinzu:
„Wenn du dich entschließest leichte Leiden zu behandeln, so stehen dir zwei Möglichkeiten offen: entweder ist deine Behandlung fehlerhaft und der Natur widerstrebend, dann wird die Krankheit schlimmer werden. Oder deine Behandlung ist richtig, dann |…| wird aber die Natur davon lernen passiv zu bleiben, und nur mit Hilfe von äußeren Kräften zweckmäßig wirken.“ So hören wir, dass sogar der Natur zu helfen und sie zu kräftigen, nicht immer angemessen ist. Hippokrates sagte schon in einem kurzen, treffenden Aphorismus, „Die Natur ist genügend, in allem, für alle“ (Gr. phusis exarkei panta pasi).
Weiter zitiert Maimonides nochmals Galen, der sagt, dass die Natur besser als der Arzt sei, um unklare Fälle zu heilen:
„Die Natur leitet die Gesundheit und heilt die Krankheit des Menschen. Sie kennt die Konstitution (hebr. mezeg) der Organe, und wird angepasste Nahrung zu jedem Organ weisen, nachdem sie die übrigen Nahrungsmittel und Säfte zu geeigneten Plätze im Körper gesandt hat.“
Die Natur ist also sachverständiger als der Arzt, weil sie den Zustand und die Bedürfnisse der Organe richtig einschätzt. Passende Nahrung zu wählen und die Säfte in Ordnung zu bringen, waren damals die Grundsätze der Heilkunst.
Die Natur als Lebenskraft
In Maimonides‘ medizischem Magnum Opus, d. h. Die Aphorismen des Moses (hebr. Pirqei Mosche) findet man einen Exkurs über die Wirkung der Natur als Lebenskraft.
Dort lesen wir:
„Diese (Lebenskraft bemüht sich fortwährend die Tätigkeit von allen Organen in ihrer Vollkommenheit zu bewahren. Und wenn sich irgendeine Krankheitsursache meldet, steht sie ihr entgegen, und stößt sie zurück.
Wie kann aber der Arzt beurteilen, ob die Natur, also die Lebenskraft des Kranken, die Lage beherrscht? Er muss das Atmen, den Puls, die Sinne (besonders die Sehkraft), die Esslust, den Verstand in Betracht nehmen. Auch auf das Antlitz soll er achten. Wenn dieses wie gewöhnlich aussieht, so ist dies ein gutes Zeichen. Das meint auch Hippokrates, besonders bei akuten Krankheiten.
Naturgemäß vs. nicht-naturgemäß
Galenische Medizin, wie sie in Ars Medica, Kap. 23, geschildert wurde, war in drei Abschnitte eingeteilt, und zwar in die natürlichen, nicht-natürlichen und kontra-natürlichen Dinge.
- Natürlich sind die Elemente, die Temperamente, die Säfte, die Organe und der Geist.
- Nicht-natürlich sind die Wirkung der Luft, Bewegung und Ruhe, Essen und Trinken, Ausleerung und Retention der Absonderungen, und das Gemüt.
- Kontra-natürlich sind die Ursachen der Pathologie.
Paradoxerweise werden wir nun über die „sechs nicht-natürlichen Dinge“ reden, die eigentlich eine Zusammenfassung der Hygiene bilden, den Gedanken des Maimonides folgend.
Zuerst möchten wir klären, dass diese „sex res non naturales“ eigentlich nichts anderes als externe Ursachen der Krankheit (bzw. der Gesundheit) sind. Wir hätten aus Maimonides‘ Regimen Sanitatis und aus ‚Über Asthma‘ zitieren können. Wir werden uns aber diesmal auf ein nicht-medizinisches Werk stützen, und zwar auf Hilkhot De’ot.
Dies ist ein Kapitel des zweiten Teiles des ersten Buches des theologischen Codex des Maimonides. Hier, im vierten Kapitel, erklärt Maimonides, dass man nur mit Erfolg studieren kann, wenn man gesund ist. Darum muss man sich also von allen Eigenschaften die dem Körper schaden können, fernhalten.
Zuerst schreibt er über Essen und Trinken, wann, wie und wie viel, und nachfolgend über den Schlaf: „Man soll sich nicht auf den Bauch oder den Rücken, sondern auf die Seite hinlegen, zuerst auf die linke, später auf die rechte Seite. Hinlegen soll man sich nicht gleich nach dem Essen, sondern erst drei bis vier Stunden später, ebenso nicht während des Tages.“21 Man soll ein Drittel des Tages, also acht Stunden, schlafen.
Körperliche Übungen werden dringend empfohlen. Vor dem Essen soll man spazieren gehen oder sich anderweitig bewegen, dann eine kleine Weile ausruhen, und sich erst dann ernähren. Dagegen soll man nicht gleich nach dem Essen seine Kräfte vergeuden, sondern erst am Ende der Verdauung.
Baden soll man einmal in der Woche, aber nicht, wenn man hungrig ist und auch nicht gleich nach dem Essen. „Den Körper soll man mit heißem Wasser waschen, den Kopf mit sehr warmem Wasser. Danach benutzt man lauwarmes Wasser, und am Ende kaltes Wasser, aber nicht auf dem Kopf. Kaltes Wasser wird man nur anwenden, nachdem man geschwitzt und den Körper massiert hat. Bald danach soll man sich ankleiden, den Kopf sorgfältig bedecken, sogar bei warmem Wetter. Nach dem Bad ist es empfehlenswert, eine Weile auszuruhen, und nicht gleich danach eine Mahlzeit einzunehmen.“
Die Aussonderung von Urin und Kot soll ständig kontrolliert werden, vor und nach dem Essen, vor und nach dem Bad, vor und nach der Übung, vor und nach sexuellen Beziehungen, vor und nach dem Schlaf. Man soll sich vor Verstopfung hüten, da viele schlimme Krankheiten davon kommen. Am besten soll der Kot weichlich sein.
Das Gemüt wird im zweiten Kapitel der Hilkhot De’ot behandelt. Man soll sich bemühen, alle Affekte zu kontrollieren, in dem man sie auf der „mittleren Linie“ hält. Der Mensch soll glückselig bleiben und alle seine Reaktionen beherrschen.
Am Anfang des vierten Kapitels der Hilkhot De’ot schreibt Maimonides:
„Ein Mensch soll sich in solcher Weise benehmen, dass seine Gesundheit erhalten bleibt: er soll nur essen, wenn er hungrig ist, nur trinken, wenn er durstig ist, zum Abort gehen, sobald er ein Bedürfnis dazu fühlt. Er soll nicht essen, bis sein Magen voll ist, sondern er soll immer ein Viertel des Magens freihalten. Er soll während der Mahlzeit kein Wasser trinken, oder nur wenig, und dies mit Wein gemischt.“
Und am Ende des Kapitels schreibt er:
„Ich bin überzeugt, dass jedermann der sich so benimmt, wie ich hier unterrichtet habe, nie erkranken wird, bis zu seinem Tode in hohem Alter, und er wird keinen Arzt benötigen. Sein Organismus wird gesund und vollkommen bleiben, wenn nicht irgendeine kongenitale Anomalie bei ihm vorhanden ist.“
Obwohl dieser Anspruch uns ein wenig übertrieben scheint, wollte wohl Maimonides in dieser Weise seine Leser überzeugen, seine hygienischen Anweisungen ernst zu nehmen.
Zusammenfassung
Natura sanat morbus, oder, in der Fassung der Schola Salernitana, sanat Corpora – hierfür brauchte man im Mittelalter, aber vielleicht noch heute, ein Regimen Sanitatis. Dies war nicht nur für Ärzte notwendig, sondern auch für die gebildeten Menschen.
Für Hufeland und für das, was man Hausmedizin nannte, stellte sich die Frage: Wie soll oder muss man handeln, bis der Arzt eintrifft, oder überhaupt anstelle eines Arztes. Für Maimonides und seine Zeitgenossen wurde die Frage anders gestellt. Die Natur weiß sich gegen Angriffe, wenn solche nicht zu heftig sind, selbst zu helfen. Der Arzt muss lernen zu beurteilen, ob und wann er seine eigene Hilfe anbieten soll. Um diese Erfahrung zu erreichen, muss er zuerst die Natur des Menschen kennen lernen. Zweitens muss er die „unvermeidlichen Ursachen“ von Gesundheit und Krankheit (contra-natura) kennen und sie der Lage eines kranken (oder sogar gesunden) Menschen anpassen.
Im dreizehnten Kapitel des Buches Über Asthma bemerkt Maimonides, dass sogar Galen schon betont habe, wie oft er selbst über die Behandlung eines Patienten unschlüssig war. In unseren Zeiten, so Maimonides, wo die Ärzte erstens oft wenig Erfahrung und zweitens ein ausgezeichnetes Gedächtnis haben müssen – nachdem sich die Medizin so stark entwickelt hat (!) – reicht ein ganzes Leben nicht aus, um ein vollkommener Arzt zu werden.
Wenn aber der Arzt nicht vollkommen ist, wie es leider meistens der Fall sei, solle man ihm kein Vertrauen schenken, sondern sich lieber der Natur zu wenden, und, nach ernsthafter Überlegung, eine geeignete Diät anwenden.
Maimonides Äußerungen über die Naturheilkunde stehen im Einklang mit vielen anderen Werken des Mittelalters. Auch in seinen anderen medizinischen Werken war Maimonides kein Bahnbrecher. Er zeigte aber in seinen philosophischen und theologischen Schritten alle imponierenden Eigenschaften, die er hatte, nämlich eine kritische Wahl der Bezugspunkte, eine klare und kurz gefasste Ausdrucksweise und die Autorität eines sachverständigen Fachmannes.
Man darf wohl behaupten, dass noch heute ein „voll ausgebildeter Arzt“ die Lebensordnung seiner Patienten steuern, und dass jedermann sein Regimen Sanitatis zu Herzen nehmen sollte. Ein Herzenswunsch – ’natürlich‘.
Ich möchte hier meinem Freund Dr. Edgar Weil danken, der meine deutsche Fassung bedeutsam verbessert hat.
Anmerkungen: im Buch finden sich zahlreiche Fussnoten und Abbildungen…
[Naturheilkunde und Judentum]
Nach der theoretischen und methodologischen Trennung von Schulmedizin und Naturheilkunde haben sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch wieder akademisch gebildete Ärzte der alternativen und Naturheilverfahren angenommen und waren nun um deren wissenschaftliche Begründung bemüht. Nachweislich haben sich auch Ärzte jüdischer Herkunft und jüdischen Glaubens auf diesem Gebiet engagiert. Das Buch [Naturheilkunde und Judentum] befasst sich mit der Frage, welche Rolle dabei aus dem Judentum selbst erwachsene Ansprüche und Intentionen gespielt haben. Es analysiert, inwieweit gerade jüdische Ärzte und Heilkundige Anhänger oder Protagonisten einer modernen Naturheilkunde und Naturheilbewegung waren.Schließlich werden die hieraus resultierenden praktischen Konsequenzen aufgezeigt, etwa für sozial- und standespolitische Forderungen oder die Gründung von Institutionen und Vereinen.